Samstag, 1. August 2020

Oscar Wilde - Der Sozialismus und die Seele des Menschen



"Der grösste Nutzen, den die Einführung des Sozialismus brächte, liegt ohne Zweifel darin, dass der Sozialismus uns von der schmutzigen Notwendigkeit, für andere zu leben, befreite, die beim jetzigen Stand der Dinge so schwer auf fast allen Menschen lastet. Es entgeht ihr in der Tat fast niemand."

"Sie suchen etwa das Problem der Armut dadurch zu lösen, dass sie den Armen [11] am Leben halten; oder – das Bestreben einer sehr vorgeschrittenen Richtung – dadurch, dass sie für seine Unterhaltung sorgen. Aber das ist keine Lösung: das Uebel wird schlimmer dadurch. Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht. Und die altruistischen Tugenden haben tatsächlich die Erreichung dieses Ziels verhindert. Gerade wie die schlimmsten Sklavenhalter die waren, die ihre Sklaven gut behandelten und so verhinderten, dass die Grässlichkeit der Einrichtung sich denen aufdrängte, die unter ihr litten, und von denen gewahrt wurde, die Zuschauer waren, so sind in den Zuständen unserer Gegenwart die Menschen die verderblichsten, die am meisten Gutes tun wollen;..."

"Ich glaube kaum, dass irgend ein Sozialist heutzutage im Ernst vorschlagen könnte, ein Inspektor solle jeden Morgen jedes Haus visitieren, um nachzusehen, ob jeder Bürger aufgestanden ist und sich an seine achtstündige körperliche Arbeit gemacht hat. Die Menschheit ist über diese Stufe hinausgekommen und überlässt diese Art Leben den Menschen, die sie sehr unvernünftiger Weise Verbrecher zu nennen beliebt. Aber ich gestehe, viele sozialistische Anschauungen, denen ich begegnet bin, scheinen mir mit unsaubern Vorstellungen von autoritärer Gewalt, wenn nicht tatsächlichem Zwang behaftet zu sein. Autoritäre Gewalt und Zwang können natürlich nicht in Frage kommen. Alle Vereinigung muss ganz freiwillig sein. Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön."

" Die wahre Vollkommenheit des Menschen liegt nicht in dem, was er hat, sondern in dem, was er ist. Das Privateigentum hat den wahren Individualismus vernichtet und einen falschen hingestellt. Durch Aushungern hat es einem Teil der Gemeinschaft die Möglichkeit benommen, individuell zu sein."